Berlin: Mauerspecht trifft Checkpoint Charlie

SCHNAPSIDEE

Vor etwa 10 Jahren, vor dem Fall der Berliner Mauer, wurde in einer informellen Diskussionsrunde die Frage aufgeworfen, warum bis dato kein Anschlag gegen die Mauer verübt worden war. Ein isolierter Vorfall, bei dem ein wütender und betrunkener Autofahrer absichtlich oder auch nicht absichtlich gegen die Mauer gefahren war, war das einzige Ereignis in dieser Hinsicht. Im Verlauf der Diskussion wurde die Idee geboren, ein Stück der Mauer zu entwenden, und es wurde sogar erwogen, 5 Meter des antifaschistischen Schutzwalls heimlich zu sprengen. Ungeachtet der Tatsache, dass dies technisch nicht möglich gewesen wäre, wurden bereits Gedankenspiele über die Vermarktung der "Beute" angestellt, nachdem die Schlagzeile "5 Meter Mauer spurlos verschwunden" in den Medien erschienen wäre.

Unabhängig von der Diskussion, die zuvor geführt wurde, erwachte Alwins Interesse an einer Idee, als er einen Bericht über den Verkauf von Mauerstücken nach dem Fall der Berliner Mauer im SFB sah. Inspiriert von dieser Entwicklung, beschloss er, am nächsten Tag selbst zur Mauer zu gehen, um die Atmosphäre vor Ort zu erleben. 

Von seiner Werkstatt in Kreuzberg aus begab er sich zum Mariannenplatz, wo die kunstvoll bemalte Mauer stand. Diese Gegend, auch als „Noch-Ghetto“ bekannt, zog zu diesem Zeitpunkt nur wenige Touristen an. Hier, wo die Mauermalerei als Kunstform entstand, fühlte Alwin sich inspiriert und heimisch.

1989

So wurde Alwin über Nacht zum Mauerspecht.

Alwin begab sich von seiner Werkstatt in Kreuzberg in der Wiener Straße, nahe des Spreewaldplatzes, direkt zur Mauer und gelangte so zum Mariannenplatz. Die kunstvoll bemalte Mauer war hier besonders beeindruckend, und nur wenige Touristen besuchten damals das noch als "Noch-Ghetto" geltende Kreuzberg. Falls es eine Form von Mauermalerei als Kunst gibt oder gab, so war sie hier entstanden und etabliert.

Es stellte sich heraus, dass er nicht der einzige war, der die Idee hatte, es zu versuchen. Alle 20 bis 30 Meter war bereits jemand dabei, mit Hammer und Meißel zu arbeiten. Erfahrungen wurden schnell ausgetauscht, um dem extrem harten Stahlbeton entgegenzuwirken. Ein einfaches Hämmerchen aus dem Laubsägekasten reichte hier nicht aus.

Märkisches Viertel

Mariannenplatz

 

In der Anfangsphase seines Projekts erlebte er nahezu täglich Verletzungen an der Mauer. Ob durch den schweren Hammer oder beim Entfernen der Mauerstücke, Schnitte, Kratzer und Schürfwunden waren keine Seltenheit. 

Alwin, der am Kurfürstendamm abends Mauerstücke anbot, benötigte neues Werkzeug und reagierte souverän auf die Frage nach der Echtheit der Steine, indem er seinen Handschuh auszog. Dies führte dazu, dass die meisten Betrachter entsetzt reagierten und sich abwandten. Dieses Ereignis symbolisiert die nachhaltige Wirkung der Mauer, die auch nach dem 9. November 1989 noch spürbar war. Bedauerlicherweise ereignete sich auch ein tragischer Vorfall am Stadtrand, bei dem ein Jugendlicher während des "Spechtens" von der Mauer erschlagen wurde.

Alwin benötigte nahezu drei Monate, um sich in seinem neuen Tätigkeitsbereich einzuarbeiten. Es wurde rasch festgestellt, dass nur wenige der zahlreichen Menschen aus verschiedenen Ländern überhaupt etwas von der Mauer herausbekamen. Dies war für Alwin von großer Bedeutung, da er aus eigener Erfahrung mit der Mauer wusste, wie unerbittlich und widerstandsfähig das als das "sicherste Grenzsicherungssystem der Welt" geltende Bauwerk war.

Durch jeden präzisen Hammerschlag auf den Meißel wurde die Mauer in einem Umkreis von 2-3 Metern so wild zerstreut, dass die Gefahr bestand, das Augenlicht zu verlieren. Dies führte zur Entstehung eines neuen Dienstleistungsgewerbes, bekannt als "Mauerspechte". Erfahrene Fachleute übernahmen die schwierige Aufgabe, Mauerstücke zu gewinnen, die für andere unerreichbar schienen. Diese Tätigkeit erforderte ein hohes Maß an Präzision und Fachwissen im STEINBRUCH. 

Die meisten seiner Mauerspecht-Kollegen boten ihre Ware damals noch „frisch“ an, das heißt sie boten die Mauerbrocken direkt beim Abbau an der Mauer an. Da jedermann bei der Arbeit zuschauen konnte, brauchte es auch keinen Beweis. So hatte jeder kamera-behangene Berlin-Tourist sein eigenes Beweisfoto geschossen.

Alwin konzentrierte sich jedoch darauf, die Authentizität der Mauersteine durch Fotografien zu dokumentieren, anstatt sich an den physischen Aktivitäten zu beteiligen. Während seine Kollegen sich ausschließlich auf das Zerschlagen der Mauer konzentrierten, erkannte Alwin den Wert der langfristigen Dokumentation und hielt seine Beobachtungen fotografisch fest.

Alwin galt zu dieser Zeit als der einzige Experte unter den Spechten, der während seiner Arbeitszeit keine Mauerstücke verkaufte. Um seinen Lebensunterhalt zu bestreiten und neues Werkzeug zu erwerben, verkaufte er abends am Ku'damm nur so viel Mauerbrocken, wie er zum Arbeiten und Leben benötigte. Den Großteil seiner täglichen Ausbeute sicherte er für sich selbst. Bis heute besitzt er große Teile davon, viele sogar mit Beweisfotos.

Es ist anzumerken, dass die Behauptung, Alwin sei der einzige gewesen, der nichts an der Mauer verkauft habe, nicht eindeutig nachweisbar ist. Es ist jedoch erwähnenswert, dass Alwin persönlich von diesem Prinzip profitierte. Trotz der Belästigungen bei der Arbeit an der Mauer, ob er nicht doch ein Stück verkaufen wolle, entschied er sich, gelegentlich ein Stück zu verschenken, um sein Prinzip aufrechtzuerhalten. Überraschenderweise ermöglichte ihm die Mauer, ein bisher unbekanntes Glücksgefühl zu erleben. Fremde Menschen bedankten sich für ein Stück Mauer, als ob er ihnen eine bedeutende Summe Geld geschenkt hätte. Diese Erfahrung machte ihn unerwartet reich, obwohl er kein Geld besaß.

Alwin war steinreich und glücklich.

Das Treiben an der Mauer war nicht nur Freude, sondern nach wie vor steinbruchharte Arbeit, mit auch immer häufiger vorkommenden lästigen Begleiterscheinungen. Die Mauer war inzwischen für jedermann. So war es nicht verwunderlich, dass die ersten Beschimpfungen zu hören waren. Immer öfter musste Alwin seine Arbeit aus sicherheitstechnischen Gründen unterbrechen, da neugierige Touristen und Sensationsfoto-heischende Fotografen sich viel zu nah im Schlagbereich des Hammers befanden.

Seine Expertise und Professionalität in der Handhabung seines vollständigen Werkzeugs und seiner präzisen Schlagtechnik ermöglichten es ihm, effizient an der Mauer zu arbeiten, ohne sich zu verletzen. Diese Fähigkeiten hoben ihn von anderen Arbeitern ab und zogen die Aufmerksamkeit von Kameras und Fotografen auf sich, die sein Können festhalten wollten.

Alwin wurde zunehmend häufiger nach dem Verbleib der Mauerstücke gefragt. Seine standardisierte Antwort darauf lautete: "Ich plane, heute Abend eine köstliche Suppe daraus zuzubereiten."

So war bald abzusehen, wie lange es noch dauern würde, bis das letzte Stück Original Graffiti in alle Welt verschwunden ist. Und soweit kam es noch nicht einmal.

Da es etwa fünfmal schwerer war oben auf der Leiter zu arbeiten, kletterten die ersten Spechte duch die inzwischen vorhandenen Löcher in der Mauer und bearbeiteten die Rückseite in angenehmer Schlaghöhe. Zuvor hatten sie natürlich ihr eigenes Graphiti aufgesprüht und etwas antrocknen lassen.

In den meisten Fällen ist es möglich, den Unterschied zwischen Original und Fälschung von Mauer-Graphitis leicht zu erkennen. Es ist jedoch wichtig zu beachten, dass die Mauer mehrfach übermalt und besprüht wurde, was dazu führen kann, dass bis zu sieben Farbschichten übereinander zu sehen sind. In solchen Fällen ist ein Foto als Beweis nicht erforderlich.

Mit der steigenden Nachfrage entwickelte sich ein Markt für Mauerstücke, der anfangs noch transparent und ehrlich war. Jedoch wurde bald klar, dass die Farbvielfalt der Mauerstücke einen größeren Einfluss auf den Preis hatte als ihre Größe. Daher begannen einige Spechte, zusätzlich zu ihren Werkzeugen auch Spraydosen einzusetzen, um die Mauer zu bearbeiten.

Bei der Nachbearbeitung von Mauerbrocken durch Besprühen wurde darauf geachtet, möglichst farbenfrohe Stücke mit sparsamem Farbauftrag zu erzeugen.

 Dies geschah vor dem Hintergrund der hohen Kosten für Farbe und der noch ausstehenden Einnahmen.

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